Rede von Refugees Welcome Bonn zur Situation in Afghanistan am 21. August 2021

Im folgenden findet Ihr unseren Redebeitrag, der im Rahmen der von Seebrücke_Bonn und “100 girls 100 problems 100 solutions” organisierten Bonner Demonstration bei den Vereinten Nationen sowie der zeitgleich stattfinden Kölner Kundgebung des Zentralrat der Ex-Muslime Deutschland gehalten wurde.
Die Taliban wüten wieder in Afghanistan und der Westen schaut betreten zu Boden: Nach einem zwanzig Jahre währenden Einsatz, der viele Menschenleben – in erster Linie afghanische – forderte, viel Geld gekostet hat und in dessen Laufe sich (wie bereits seit Jahrzehnten) immer wieder Massen von Menschen zur Flucht gedrängt sahen.
Nun drohen sämtliche Errungenschaften, die in der Zeit durch und für die Menschen in Afghanistan trotz aller Widrigkeiten erkämpft werden konnten, auf einen Streich zunichte gemacht zu werden.

 
Es ist ein Desaster mit Ansage, das durchaus nicht dermaßen überraschend und von heute auf morgen eintrat, wie sich jetzt Außenpolitiker*innen und Geheimdienste beeilen zu versichern. Und während sich die westlichen Alliierten selbst die Blöße geben, nicht einmal in der Lage gewesen zu sein, ihre eigenen Staatsbürger*innen rechtzeitig zu evakuieren, fällt bei so manchem der Groschen, dass hier gerade eine Katastrophe stattfindet, deren Folgen noch lange zu spüren sein dürften.
 
Derweil gib es auch hier seit langem Stimmen, die fordern, mit den Taliban zu verhandeln, sie einzubinden und es wird immer wieder die Frage gestellt, ob sich diese nicht mittlerweile geläutert hätten. Dass dies mitnichten der Fall und die milde Rhetorik der Taliban reine Fassade ist, zeigt sich in deren Taten. Während die Taliban immer wieder medienwirksam verlautbaren lassen, sie würden keine Repressalien gegenüber Menschen verüben, die mit den westlichen Alliierten kooperiert haben, keine Frauen unterdrücken und eine freie Presse zulassen, sprechen ihre Taten eine völlig andere Sprache.
 
Nicht erst seit der faktischen Machtübernahme in Kabul sondern bereits im Vorfeld kam es vermehrt zu politischen Morden an Journalist*innen sowie im Juli zu einem Massaker an Zivilisten aus der Minderheit der Hazaras. Und auch jetzt nach Einnahme fast aller größeren Städte reißt die Gewalt keineswegs ab. Trotz der mittlerweile geringen Präsenz ausländischer Journalist*innen im Land, gibt es zahlreiche Berichte über Übergriffe auf Frauen (bspw. weil sie Jeans statt Burka tragen), Schüsse auf Demonstrierende1 und die Suche der Taliban nach Menschen, an denen sie aufgrund von deren Kooperation mit der Regierung oder den Alliierten Rache zu nehmen trachten.
Auf der Suche nach einem Journalisten der Deutschen Welle ermordeten die Taliban dieser Tage zwei seiner Familienmitglieder. Gleichzeitigen gibt es zahlreiche Berichte über Angriffe auf Flüchtende, die versuchen, den Kabuler Flughafen zu erreichen. Hasnain Kazim, der viel über Afghanistan berichtete, stellt folglich treffend in der „Zeit“ fest: „Es gibt keine Taliban, mit denen man reden, verhandeln kann. Es gibt nur mörderische, mittelalterlich bis steinzeitlich denkende, primitive Taliban. Man kann sie nur bekämpfen.“2
 
In der Berichterstattung und der politischen Debatte wurde und wird immer wieder der Eindruck erweckt, die jetzige Machtübernahme der Taliban sei unausweichlich gewesen. Das ist allein schon deswegen falsch, weil es sich de facto um eine durch die Trump-Regierung orchestrierte Machtübergabe seit 2018 handelte, wodurch sich der Ex-US-Präsident einmal mehr als Totengräber des Westens erwies. Dessen traditionelle Opponenten – Russland und China – sowie dessen falschen Freunde in Saudi Arabien und Pakistan freut‘s – und so vernahm man aus diesen Ländern bereits Bekundungen zur Bereitschaft, mit den Taliban künftig offen kooperieren zu wollen.
 
Afghanistan wurde nicht oder zumindest nicht nur von den Teilen der Afghanischen Nationalarmee verraten, die sich kampflos den Taliban ergaben, sondern auch von den westlichen ehemaligen Besatzern. Nachdem Donald Trump den Taliban das Land 2018 faktisch bereits in Aussicht gestellt hatte, trat der amtierende Präsident Biden in dessen Fußstapfen, indem er den Taliban zudem noch ohne Not die Machtergreifung zum maximal wahnsinnig gewählten symbolträchtigen 11. September hin gewährte und die Luftunterstützung für die Afghanischen Armee einstellte.
Die Vizepräsidentin der Afghanischen Nationalversammlung Fausia Kufi stellte fest, dass selbst die Verlängerung des Einsatzes um nur einen Monat möglicherweise ausgereicht hätte, um die Taliban zu Zugeständnissen und einer zumindest vorläufigen Verhandlungslösung bei den Gesprächen in Doha zu bewegen. Durch den übereilten Truppenabzug hätten diese nun überhaupt keinen Druck mehr verspürt, weiterzuverhandeln.3
 
Festzuhalten ist auch, dass die Afghanische Nationalarmee sowie die Polizei in den letzten Jahren – anders als die NATO-Truppen – hohe Verluste zu erleiden hatte. Die Zahlen sollen sich im Bereich von bis zu 70.000 Menschen bewegen.
 
Neben diesem Fatalismus der vermeintlichen Unvermeidbarkeit einer talibanischen Terrorherrschaft über 40 Millionen Menschen findet sich oft noch eine weitere, ebenso unsägliche Annahme. Nämlich die, dass ein solches Regime dem Willen der afghanischen Bevölkerung entspräche, ganz so, als habe es eine entsprechende Urabstimmung gegeben.
Dass diese offenkundig irrwitzige Annahme keineswegs zutrifft, belegen die seit Jahrzehnten vor den sog. Gotteskriegern und deren Terror fliehenden Menschen aber auch der Widerstand gegen deren sich abzeichnendes Regime. Nicht nur haben sich unzählige Afghan*innen in den vergangenen 20 Jahren für ein besseres Leben, ein freieres Land und mehr Sicherheit eingesetzt.
Auch jetzt, nachdem die Taliban bereits begonnen haben, eine erneute Schreckensherrschaft zu errichten, gehen Menschen auf die Straßen, reißen deren Dschihad-Fahnen herunter und ersetzen sie wieder durch die afghanische Nationalflagge. Frauen demonstrieren gegen die Zumutungen und den Tugendterror, der schon jetzt wieder vermehrt Raum greift.
 
Und auch der bewaffnete Widerstand gegen die Taliban beginnt sich in Form der National Resistance Front zu formieren. Unter der Führung Ahmad Massouds, des gleichnamigen Sohnes des Afghanischen Nationalhelden Ahmad Shah Massoud sowie des afghanischen Vizepräsidenten Saleh hat sich diese im Pandschir-Tal formiert. Teile der Afghanischen Nationalarmee, die sich nicht dem Defätismus oder der Kollaboration ihrer Kommandeure ergeben wollten, haben sich dieser angeschlossen und es gibt auch Hinweise, dass weitere Fraktionen dazustoßen. Bei Kämpfen in der Provinz Baghlan wurden gestern (20.8) drei Provinzen zurückerobert und im Zuge dessen 60 Terroristen getötet4. In der Washington Post vom 18. August richtet Massoud einen flammenden Appell an den Westen und besonders die USA, die National Resistance Front mit Waffen und Ausrüstung zu unterstützen.5
 
Massoud schreibt:
 
„Know that millions of Afghans share your values. We have fought for so long to have an open society, one where girls could become doctors, our press could report freely, our young people could dance and listen to music or attend soccer matches in the stadiums that were once used by the Taliban for public executions — and may soon be again.
 
The Taliban is not a problem for the Afghan people alone. Under Taliban control, Afghanistan will without doubt become ground zero of radical Islamist terrorism; plots against democracies will be hatched here once again.
 
No matter what happens, my mujahideen fighters and I will defend Panjshir as the last bastion of Afghan freedom. Our morale is intact. We know from experience what awaits us.
 
But we need more weapons, more ammunition and more supplies.
 
America and its democratic allies do not just have the fight against terrorism in common with Afghans. We now have a long history made up of shared ideals and struggles. There is still much that you can do to aid the cause of freedom. You are our only remaining hope.“
 
Es lässt sich bloß hoffen, dass dieser Appell nicht ungehört verhallt und die National Resistance Front die Mittel bekommen, die sie benötigt, um sich gegen die Taliban zu behaupten.
 
 
Die Taliban haben Afghanistan bereits einmal in eine Hölle verwandelt. In eine Hölle für Frauen, für Homosexuelle, für Atheist*innen, für Kommunist*innen, für Linke und generell für alle freiheitsliebenden Menschen – streng genommen sogar für solche, die nur geringfügig vom religiösen Tugendterror der Taliban abwichen. Zwischen Taliban, Al Qaida und den IS passt kein Blatt. Die Vorstellung, man könne diese „einbinden“, diese könnten ein Land „befrieden“ ist schon nicht mal mehr als grenzdebil zu bezeichnen. Den einzigen Frieden, zu dem die Taliban fähig sind, ist die Friedhofsruhe, die herrscht, wenn sie alle Abweichler*innen, alle Frauen, alle Minderheiten zum Verstummen gebracht haben. Dasselbe gilt genauso für die sog. Islamische Republik Iran und deren mittlerweile über 40 Jahre währendes Mullah-Regime, das ebenso weltweiter Förderer islamistischen Terrors ist.
 
 
Wenn nun behauptet wird, in 20 Jahren Krieg sei nichts erreicht worden, so ist das schlicht zynisch und menschenverachtend. Nach der Befreiung von der ersten Schreckensherrschaft der Taliban erlangte die afghanische Bevölkerung, insbesondere die durch die Taliban versklavten Frauen und Mädchen, zwar immer noch begrenzte, aber zumindest relative Freiheiten und Entfaltungsmöglichkeiten. Mädchen konnten zur Schule gehen, Frauen konnten arbeiten, die brutale Unterdrückung und das Morden religiöser Minderheiten wie der Hazaras gingen zurück, Homosexuelle wurden zwar noch verfolgt aber zumindest nicht von Staats wegen ermordet. Möglicherweise fehlt westlichen Betrachter*innen auch die Phantasie dafür, was es bedeutet keine Musik hören zu dürfen, den Schulbesuch verweigert zu bekommen oder das Haus nicht allein verlassen zu dürfe, weil diese Dinge hier lange als so selbstverständlich angesehen werden, dass sie normalerweise nicht der Rede Wert sind. Jedes Jahr, jeder Monat und jeder Tag ohne die mörderische Terrorherrschaft ist es wert dafür zu kämpfen.
 
Jede Person, die sich für die Abschiebung von Menschen einsetzt, sollte sich schämen. Dies gilt immer und überall.
Die politisch Verantwortlichen dafür, dass Menschen noch bis vor Kurzem aus Afghanistan abgeschoben wurden, haben Blut an ihren Händen.
 
Was es nun braucht, ist die unmittelbare Einrichtung einer militärisch abgesicherte Schutzzone, die all denjenigen Schutz bietet, die nicht unter der Terrorherrschaft der Taliban leben können oder wollen.
Die Debatte, um die Abwägung , ob ein paar Hundert sog. Ortskräften ohne die der Einsatz der Bundeswehr wesentlich gefährlicher und noch ineffektiver gewesen wäre, in Deutschland Asyl finden dürften, ist unwürdig.
Denn sie vergisst, dass es neben den ca. 300.000 Menschen, die über die Jahre allein direkt mit den USA kooperiert haben6, unzählige weitere Afghan*innen gibt, die sich bspw. in Menschenrechtsorganisationen oder NGOs engagiert haben. Was ist mit den Lehrerinnen an den Mädchenschulen, die bereits zuvor immer wieder Ziel blutiger Anschläge und Massaker durch die Taliban wurden und die formal nicht zum eng gezogenen Kreis der „Ortskräfte“ zählen? Was ist mit all den anderen, denen ein Leben unter den Taliban nicht möglich ist?
 
Flüchtenden, die das Land verlassen, muss generell und ohne bürokratische Prozesse, die schon so manchen das Leben gekostet haben, Aufnahme und Asyl gewährt werden.
 
 
Thomas Osten-Sacken zog den Vergleich zum Irak und Kurdistan, indem er das kurdische Sprichwort zitierte, die Kurden hätte keine Freunde als die Berge7. Mögen die Berge ums Pandschir-Tal nun nicht auch die einzigen Freunde sein, die die afghanischen Widerstandskämpfer*innen noch haben.
 
Sollte es zu weiterem bewaffneten Widerstand oder gar dem Versuch weiterer Rückeroberungen durch die National Resistance Front kommen, sollte es das mindeste sein, dass dieser materielle Hilfe und eine effektive Luftunterstützung gewährt wird.
Quellen:
 
1) https://www.nzherald.co.nz/world/taliban-kill-woman-for-not-wearing-burqa-on-same-day-it-vows-to-honour-womens-rights/US3LE23D4I6TSERYSUEG5HO2SY/
2) https://www.zeit.de/politik/ausland/2021-08/afghanistan-taliban-kabul-flucht-journalisten-gebiete-islamismus-gefahr/komplettansicht
3) https://www.theguardian.com/global-development/2021/aug/19/afghanistan-delaying-us-exit-could-have-meant-peace-biden-taliban-fawzia-koofi
4) https://www.newsweek.com/anti-taliban-resistance-recaptures-multiple-areas-afghans-fight-back-1621437
5) https://www.washingtonpost.com/opinions/2021/08/18/mujahideen-resistance-taliban-ahmad-massoud/
6) https://www.nytimes.com/2021/08/16/us/afghanistan-visa-refugees-us.html
7) Einer der wenigen häufiger in Deutschland öffentlich in Erscheinungen tretenden Nahostexperten, die diesen Namen verdienen: https://www.facebook.com/thomas.ostensacken/posts/10219447989822382
 
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