Was in den letzten Tagen und Wochen in Afghanistan passiert ist, hat uns dazu veranlasst heute hier zu sprechen. Die Rolle der deutschen Regierung und des Außenministeriums in dieser Lage ist zutiefst zu verurteilen und hat erneut die menschenverachtende Ignoranz der beteiligten Regierungen offenbart. Als Studierende möchten wir heute insbesondere unsere Solidarität mit den Studierenden in Afghanistan bekunden.
Die derzeitige Situation der Studierenden in Afghanistan ist für viele von uns unvorstellbar. Universitäten waren geschlossen und sind nun unter strikten Bedingungen wieder geöffnet. Ein gerechter Zugang zu Hochschulbildung und Bildung im Allgemeinen wird verwehrt. Diese Maßnahmen und Einschränkungen behindern vor allem FLINTA, die versuchen einem Studium nachzugehen.
Das Recht auf Bildung, ein Privileg, welches wir in Deutschland besitzen, ist in Afghanistan seit der Übernahme der Taliban nicht nur in Gefahr, sondern ist besonders für FLINTA nicht mehr existent. In den sozialen Netzwerken gibt es zahlreiche Berichte von FLINTA, die ihre Diploma, Abschlusszeugnisse und ähnliche Urkunden – etwas auf das mensch ja eigentlich stolz ist – vernichten, aus Angst, dass diese von den Taliban gefunden werden und sie dadurch noch weiter in Gefahr bringen. Ein Bildungsabschluss darf jedoch nie Gefahr bedeuten.
Genau aus diesen Gründen fordern wir deutsche Hochschulen dazu auf, sich dafür einzusetzen Studierenden, Promovierenden, Lehrenden und Mitarbeitenden afghanischer Hochschulen die Möglichkeit des unbefristeten Aufenthalts in Deutschland zu geben, sowie die Fortsetzung bzw. den Beginn des Studiums und der Forschung zu ermöglichen.
Stipendiat*innenprogramme und Students-at-risk-Programme, wie beispielsweise das ‘Hilde-Domin-Programm’ des DAAD, existieren bereits. Allerdings müssen diese und ähnliche Programme, neben einer allgemeinen Aufstockung, sehr viel niedrigschwelliger und vor allem unbürokratischer in ihren Abläufen werden. Gefährdete Studierende und Forschende aus Afghanistan haben nicht die Zeit bis zu einem Jahr auf einen Platz zu warten. Diese Hürden müssen abgebaut werden!
Weiterhin fordern wir auch einzelne Universitäten, besonders natürlich die Universität Bonn, dazu auf unabhängig von existierenden Programmen im Rahmen ihrer eigenen Möglichkeiten aktiv zu werden. Eine sichere und zeitnahe Ausreise aus Afghanistan muss oberste Priorität haben. Es kann nicht sein, dass über die Ausreise von tausenden Menschen diskutiert wird, aber wenig bis gar nichts aktiv passiert.
Wir erleben derzeit eine humanitäre Krise, in welcher wir Verantwortung übernehmen müssen. Die deutsche Regierung und andere Institutionen haben jahrelang durch verschiedene Programme Hochschulbildung in Afghanistan gefördert – jetzt dürfen die Studierenden nicht vergessen werden. Auch an deutschen Hochschulen ist genug Platz!
Rede von Jeja Klein (Redakteur*in bei queer.de):
Restaurant. Sie verabreden, sich zu trennen und schnell in ihr jeweiliges Zuhause zu gehen. Später,
so erzählt es Gabir einer britischen Nachrichtenseite, erfährt der junge Mann, dass die Taliban
seinen Freund gefunden haben. Den Leichnam bringen sie zurück und schänden ihn. Um zu zeigen,
was die Taliban mit Schwulen machen. Gabir erhält Drohanrufe. “Wir wissen, dass du schwul bist”,
sagt eine Stimme am anderen Ende. Und: “Wir werden dich finden und töten”.
Wir Gabir ergeht es Nadim. Dem SPIEGEL erzählte er: »Als die Taliban an dem Sonntag nach
Kabul kamen, war ich gerade bei der Arbeit. Jemand hat mir eine Nachricht geschickt: Sie sind da.
Du musst dich verstecken. Ich war nervös. Schrecklich nervös. Wenn sie mich jetzt erwischen, habe
ich gedacht, bringen sie mich um.« Viele Schwule in Afghanistan sind mit Frauen verheiratet. Wie
zu anderen Zeiten in Deutschland ist das ihre Lebensversicherung. Auch Nadim ist verheiratet.
Seine Frau weiß von seiner Homosexualität. Jetzt ist die ganze Familie in Gefahr. Alle paar Tage
wechseln sie den Schlafplatz.
Als Nadim als junger Mann beginnt, seine Homosexualität zu akzeptieren, realisiert er: er muss fort.
Nach Kabul. Weg vom Zugriff der Familie, vom Gerede des Herkunftsortes. Was heute noch in den
progressiven Gesellschaften des Westens gilt, gilt auch in Afghanistan: queere Personen gehen hier
in die Großstädte, nach Kabul. Das trifft insbesondere auf Schwule zu, auf bisexuelle Männer, und
es trifft auf transgeschlechtliche Frauen vor einer möglichen Transition zu. Über Lesben, über
andere Trans- und Interpersonen wissen wir leider viel weniger oder so gut wie nichts. Weil die
Großstädte auf der ganzen Welt also der Ort der Queers sind, die vor ihrer Familie fliehen, ist der
Fall Kabuls an die Taliban auch so eine große Katastrophe für diese Afghan*innen. Nicht, weil es
sie auf dem Land, in den Provinzen, nicht gäbe. Aber weil sie sich in Kabul minimale Freiräume
erkämpft haben. So wie Nadim, der sonst mit leichtem Make Up auf die Straße tritt, mit gefärbten
Wimpern, mit einem Ohrring und getönten Haaren. Als die Taliban Kabul erreichen, hüllt er sich in
typische Männerkleidung. Es gibt Codes unter Queers, man erkennt sich auf der Straße. Das muss
es auch geben, anders lernt man sich nicht kennen. Auch in Kabul ist das so. Beziehungsweise: war.
Jetzt ist es zu gefährlich.
Der afghanische Autor und Aktivist Nemat Sadat, der in den USA lebt, schrieb bei Twitter, die
Taliban wollten queere Menschen »ausrotten und aus der afghanischen Gesellschaft tilgen«. Darum
wollen viele nur noch weg. Doch wie hätten sie sich in den vergangenen Wochen um einen der
begehrten Plätze in den Evakuierungsflügen bewerben sollen? Wie soll man vertrauen, dass
westliche Gesellschaften die Bredouillie anerkennen, in der queere Afghan*innen jetzt stecken?
Oder vertrauen, dass es Autoritäten gibt, denen eine abweichende sexuelle Orientierung, eine
abweichende geschlechtliche Identität nicht als legitimer Grund zum Sterbenlassen gilt? Wir wissen
aus BAMF-Interviews in Deutschland, dass queere Personen oft riesige Probleme haben, vom
wahren Grund ihrer Flucht zu erzählen. Und es kommt heute noch vor, dass geflüchtete Queers in
Deutschland kein Asyl erhalten mit dem Hinweis, sie könnten in ihrem Heimatland doch “diskret”
leben, sich also weiterhin einfach verstecken. Obwohl diese Praxis eigentlich vor Jahren schon vom
europäischen Gerichtshof für Menschenrechte für illegal erklärt worden ist. Misstrauen in westliche
Staaten: für Geflüchtete ist das mehr als berechtigt. Für queere Menschen auf der Flucht erst Recht.
Schlimmer noch, wenn es, wie das bei Queers in queerfeindlichen Gesellschaften eher Normalität
denn Ausnahme ist, an Selbstakzeptanz mangelt. Wenn es überhaupt schwerfällt, über Gefühle zu
reden, wegen denen man davon ausgegrenzt wird, ein normales, glückliches Leben zu führen.
Denn auch schon bevor die Taliban Kabul eingenommen haben, war Afghanistan kein liberales
Paradies, kein queerfreundlicher Ort. Auch staatliche Verfolgung hat es im “demokratischen”
Afghanistan gegeben. Offiziell stand etwa auf gleichgeschlechtlichem Sex die Todesstrafe.
Vollstreckt wurde sie seit dem Ende des ersten Taliban-Regimes 2001 zwar nicht mehr. Aber die
Existenz des Gesetzes steht symbolisch für Vieles, was queere Menschen in dem Land erdulden
mussten.
Doch es gab Nischen, Orte des Freiraums. Eine Underground-Schwulenszene etwa, von der
Rameen einer Zeitung erzählt. Rameen hat früher stolz als Drag Queen performt. Heute trifft
Rameen den Freund, mit dem sie seit drei Jahren zusammen ist, nicht mehr. Die Leute gehen aus
Angst nicht vor die Türe. Viele Partner*innen halten nicht ein mal mehr Kontakt via Messenger
zueinander. Eine gegenwärtige Angst queerer Afghan*innen ist, dass die Taliban systematisch die
sozialen Medien nach Hinweisen absuchen, wer zu bestrafen ist. Wir wissen das aus der
Verfolgungsgeschichte im Westen, etwa in Deutschland: Kriegen die Häscher einen, sammeln sie
Hinweise auf das Bekanntennetz, auf Freund*innen und Partner*innen. Chatverläufe im Handy sind
da nichts, was man riskieren möchte. Viele fürchten darüber hinaus, dass die Taliban systematisch
die sozialen Medien nach Hinweisen danach absuchen, wer aus ihrer Sicht zu bestrafen ist.
Denn klar ist, dass die Taliban ganz andere Mittel anwenden als die bisherige Regierung und ihre
Polizeien. Zum Beispiel Schwulen nachzuspionieren, sie zu foltern und bestialisch zu ermorden.
Ohne Verfahren. Schon Wochen vor der Einnahme Kabuls hatte ein Taliban-Richter einer deutschen
Zeitung über die Taliban-Praxis in den von ihnen kontrollierten Gebieten berichtet: „Für Schwule
gibt es nur zwei Strafen: Entweder Steinigung oder er muss hinter einer Mauer stehen, die auf ihn
fällt. Die Mauer muss 2,5 Meter bis 3 Meter hoch sein.“
All die queeren Personen, die in der bisherigen afghanischen Gesellschaft ihre kleine Nische
gefunden hatten, sie selbst zu sein, sind nun in größter Gefahr. Sie müssen raus aus Afghanistan. Sie
brauchen das Signal, gerade als verfolgte queere Personen, willkommen zu sein. Ein Anrecht auf
Asyl, ein Anrecht auf ein Leben in Freiheit zu haben. Bislang haben wir von den europäischen
Regierungen dazu nichts gehört. Wie viele andere Gruppen auch brauchen queere Afghan*innen
jetzt Fluchtwege und die Sicherheit, dass sie im Westen leben und bleiben dürfen. Ohne sich zu
verstellen. Weil Menschenrechte nicht verhandelbar sind.
kurzem in Afghanistan auch:
Nach der ersten Taliban-Herrschaft erkannte die afghanische Regierung die UNKonvention
zur Beseitigung jeglicher Form von Diskriminierung gegenüber Frauen an und
stellte sie Männern in der Verfassung gleich. Mit der erneuten Machtübernahme der
Taliban stehen diese Errungenschaften nicht mal mehr auf der Kippe. Sie sind hinfällig.
Daran ändern auch die Lippenbekenntnisse der Taliban nichts. Vielmehr ist das erklärte
Ziel der Taliban „ein sicheres Umfeld für die Frau zu schaffen, in der ihre Keuschheit und
Würde wieder unantastbar ist“. Rechtsquelle der Taliban ist die Scharia, welche sie
wörtlich auslegen. Unter ihnen sind weder Sicherheit, noch Würde für Frauen garantiert.
Zwar beteuern die Taliban, Frauen, die im Bildungsbereich und im medizinischen Sektor
arbeiten, dürften ihre Berufe weiterhin ausüben, ihre bisherige Herrschaft beweist jedoch
das Gegenteil.
Konsequenz des Berufsverbots für Frauen im medizinischen Bereich ist nicht nur der
Jobverlust und die daraus resultierende Armut, sondern auch die allgemeine medizinische
Unterversorgung. Für Frauen bedeutet es auch den Verlust des Zugangs zu medizinischer
Versorgung: Nach Scharia-Recht ist es ihnen nicht gestattet, ohne verwandten
männlichen Begleiter einen Arzt aufzusuchen. So bleiben ihre Krankheiten tendenziell
unentdeckt.
Die Taliban-Herrschaft macht Frauen im öffentlichen Raum unsichtbar: Weibliche Körper
müssen durch die Burka verschleiert werden, es ist Frauen verboten, laut zu sprechen
und ohne männlichen Verwandten überhaupt erst das Haus zu verlassen. Erst vor kurzem
sahen wir die Bilder, wie in Kabul Plakate, die Frauen abbildeten, übermalt wurden. Damit
knüpfen die Taliban an ihre erste Herrschaft an. Frauen wird keinerlei Recht auf
Selbstbestimmung zugestanden. Jeder Bereich ihres Lebens ist der männlichen Autorität
unterworfen.
Zwangsehen sind an der Tagesordnung: Mindestens eins von drei Mädchen wird in einer
Kinderehe zwangsverheiratet, häufig an deutlich ältere Männer. 20% der verheirateten
Mädchen werden geschwängert, bevor sie volljährig sind. Für Frauen sind Zwangsehen
nahezu ausweglos. Häusliche Gewalt und Vergewaltigung sind Tabuthemen, gegen die es
kein rechtliches Mittel und kein Entkommen gibt — Frauen sind ihnen hilflos ausgeliefert.
Setzt man sich ihnen zur Wehr, droht der Femizid.
Auch der Versuch, Bildung zu erlangen, bedeutet für viele Frauen den Tod: Ab dem Alter
von 8 Jahren ist es ihnen verboten, unterrichtet zu werden, und selbst davor beschränkt
sich die „Bildung“ auf die Lehre des Korans. Ein Sich-Darüber-Hinwegsetzen bedeutet
nach der „Rechtsauslegung“ der Taliban Steinigung.
Mit eben diesen Taliban fordern CDU-Kanzlerkandidat Laschet, Außenminister Maas und
Kanzlerin Merkel Gespräche, unter der Prämisse den Menschen vor Ort zu helfen. Die
Vorstellung, dadurch könnten Errungenschaften der letzten 20 Jahre erhalten bleiben,
verkennt die Gefahr, die von der islamistischen Terrorgruppe ausgeht. Viel mehr fordern
wir:
Solidarität mit den Frauen in Afghanistan — nieder mit den Taliban!